Der letzte Polynesische (Mikronesische) Navigationskünstler

von Bobby Schenk

Wer sich etwas näher mit Navigation befasst, wird über kurz oder lang mit den Geheimnissen der "polynesischen" Navigation konfrontiert. Denn die Frage drängt sich auf, wie die Südseeinsulaner die einzelnen zahlreichen Inseln und Inselchen besiedelt haben. Fanden - viele hundert Jahre vor Kolumbus - zielgerichtete Seefahrten statt, oder handelt es sich schlicht um Unglücksfahrten, die zur Ausbreitung menschlicher Besiedlungen im Pazifik geführt haben?. Eine direkte Antwort darauf gibt es nicht, denn die Menschen im Pazifik haben vor dem 18. Jahrhundert keine geschriebenen Sprache gekannt und sonstige Spuren in die frühe Vergangenheit fehlen fast völlig. Der Autor hat während seines mehrjährigen Aufenthalts in Polynesien natürlich versucht, hier mehr Licht - für ihn ganz persönlich  - ins nautische Dunkel zu bringen... 


Zielnavigation oder Zufall?

Die ersten Erkundigungen in dieser Frage führten ins Leere. Im recht wissenschaftlich ausgestalteten offiziellen Museum in Tahiti , dem "Musée de Tahiti et des Iles", wird das Thema "polynesische Navigation" (gemeint ist natürlich auch die der Mikronesier) schlicht ausgeklammert:  Kein Hinweis auf den Gebrauch von ausgehöhlten Kokosnüssen als Richtungsanzeiger, keine Sternkarte mit den sagenhaften "Leitsternen", keine Matte mit Muscheln als Seekartenersatz gibt eine Antwort darauf, wie die Insulaner so "zielsicher" andere Inseln hinter dem Horizont auffinden konnten.

Auch bei James Cook, unbestritten der größte Nautiker des 18.Jahrhunderts und früher Besucher Tahitis zu nautischen Zwecken (Meridiandurchgang der Venus), finden sich zwar akribische Zeichnungen von der lokalen Botanik, aber so gut wie nichts über die Navigation der Insulaner, soweit sie über die Nachbarinseln hinaus geführt hat.

Das problematischeste Navigationsgebiet stellten bis zur Einführung des GPS, wohl die Tuamotus dar, ein Inselgewirr von allein 76 Inseln, mit unberechenbaren Strömungen und häufigen Regenschauern, die oft genug den Blick auf die Palmen und damit auf die Insel verwehrten. Vor GPS war es durchaus üblich, dass potentielle Weltumsegler ein paar Wochen bis zum Halbmond warteten, um untertags einen Schiffsort zu bekommen. Das Ehepaar Koch, hochgeachtete Weltumsegler der 60er Jahre, fand die Navigation in den Tuamotus damals so schwierig, dass sie keine einzige Insel der Gruppe anliefen.

So dachte ich mir damals, die Kapitäne der Kopraschoner, die ja regelmäßig die Atolle versorgten, müssten über "höhere" Navigationskünste verfügen. Aber unser Freund aus Manihi, Martin, Skipper eines solchen Schoner, verwies nur auf die "Selected Stars" der Amerikaner.

Doch, 1980, da traf ich Rodo, der von den Einheimischen ehrfürchtig als der "letzte Tahitianer, der sich auf die polynesische Navigation versteht" vorgestellt wurde. Seinen Ruf hatte er wohl dem im Südpazifischen Raum publizistisch ausgiebig abgedeckten Unternehmen Hokule'a zu verdanken, als ein "Kanu" (so nannte Rodo das hölzerne Gefährt) dieses Namens 1976 von Hawaii aus nach Tahiti gesegelt war. Rodo wurde auf dieser Fahrt von den Hawaianern deshalb als Vertreter der polynesischen Navigationselite mitgenommen, weil er mit seinen Ortskenntnissen von den Tuamotus ein sicheres Eintauchen der Hokule'a in die polynesische Inselwelt gewährleisten sollte.

Rodo war ein netter, redseliger Tahitianer, den man schon gelegentlich an den Stammtischen der Fahrtensegler im stilvollen Akajou an der Waterfront in Papeete treffen konnte. Im Schrifttum wird er als  "experienced Tahitian sea captain Rodo Williams" bezeichnet.

Vieles hörte sich auch aus seinem Munde sehr interessant an. Dass zum Beispiel die Inseln im Tuamotu-Archipel lange bevor die bewaldete Seite als schmaler Saum am Horizont auftauche, zu erkennen seien.

Wie das? Ganz einfach, weil sich meist über der Insel eine Wolke befinde, die von der darunter liegenden smaragdgrünen Lagune angestrahlt werde. Mit diesem Wissen ausgestattet, konnte ich öfters einen grünlichen Saum an der Wolke beobachten. Auf meinem alten Weltatlas aus dem Jahre 1890 ist übrigens diese Inselgruppe noch mit dem alten Namen "Paumotus" bezeichnet, der auf diese Tatsache hinweist: "Pau" heißt nämlich "Wolke" und Motu ist nichts anderes als die "Insel", die Inseln unter den Wolken also.

Schön, aber damit kann man vielleicht - denn manchmal fehlt die Wolke - eine Insel früh erkennen, aber navigatorisch bringt einem diese Tatsache nicht viel. Doch, meinte Rodo, da gibt es viele Anzeichen auf eine nahe Insel: Blätter im Wasser und Landvögel. Außerdem solle ich mich von meiner "Instrumentengläubigkeit" (Sextant etc) lösen und die Sterne als Wegweiser benutzen. Leicht gesagt! Wie soll ich denn einen Sternenhimmel als Wegweiser benutzen, wenn genau der gleiche Sternenhimmel in exakt der gleichen Nacht in Botswana, in Peru, in Madagaskar oder auch im Outback in Australien zu sehen ist. Auf diese Frage antwortete Rodo nicht mehr direkt und verwies auf das über viele Generationen überlieferte Wissen von den einzelnen Leitsternen. Die Frage, wieso Menschen die Position von gewissen Sternen an Orten gekannt haben, wo vorher noch nie Menschen gewesen seien, also die eigentliche Kardinalfrage, ja, diese Frage überhörte Rodo regelmäßig.

Das Unternehmen Hokule'a, das eigentlich der Erforschung der Südseenavigationskünste dienen sollte, verlief übrigens ziemlich schmählich. Eine Hawaianische Gruppe versuchte erfolgreich das ganze Unternehmen zu nationalisieren und verlangte, dass die gesamte Mannschaft für die Weiterfahrt und nochmalige Fahrt von Hawai nach Tahiti nur noch aus Hawaianern bestehen sollte. Zu guter letzt wurden als Mannschaft Leute eingesetzt, die nicht einmal vom Segeln, geschweige von Navigation Ahnung hatten. Ein tödlicher Unfall setzte dem ganzen Unternehmen schließlich eine tragische Krone auf.

Nun gibt es bei derartigen Auseinandersetzungen immer wieder Argumente, gegen die man nicht so leicht ankommt. Als ich unlängst zu diesem Thema einen Vortrag hielt, wandte sich eine ältere Dame an mich und meinte: "Also ihre Argumente haben mich ja eigentlich überzeugt! Aber auf einen Umstand sind Sie nicht eingegangen! Dass es nämlich damals Menschen gegeben hat , die mit übersinnlichen Kräften ausgestattet waren!"

Recht hatte die nette Zuhörerin, solchen Einwänden lässt sich nun wirklich kein Argument entgegensetzen - ein Fall für von Däniken!

Trotzdem, bei solchen Diskussionen tauchen ja immer wieder "sagenhafte Nautiker in Mikronesien" - präzise "in den Marsschall-Inseln" auf, die über diese sagenhafte und recht geheimnisvolle Navigationskunst verfügen. Glücklicherweise bin ich nunmehr hierzu in der Literatur fündig geworden. Und zwar in einem sehr empfehlenswerten Büchlein über eine Weltumsegelung mit einer Proa. Diese erfrischende Schilderung Ennoia mit Kurs auf die Sonne von Wolfgang Vandeck ist nach langer Zeit wieder erhältlich: Siehe hier. Mit dem Buch werden viele glücklich sein, einen etwas anderen Einblick in die Welt der Weltumsegler zu finden.

Auch Vandeck hat sich mit dem Thema "Südseenavigation" auseinandergesetzt und hat einen dieser Spezialisten in Mikronesien (Kiribati-Inseln) persönlich getroffen. Er war mit seiner Proa ENNOIA in die Kiribati-Inseln gelaufen (Mikronesien). Das betreffende Kapitel ist mit "Der Navigator" überschrieben. Ich zitiere, um authentisch zu bleiben, daraus (auszugsweise) wortwörtlich. Wolfgang Vandeck schreibt:

...Ohne gute Karten und Satellitennavigation oder wenigstens einen Sextanten hätte ich nicht gewußt, wie man hier die Atolle hätte finden können. Und doch haben die Mikronesier - große Seefahrer wie die Polynesier - eben genau dieses Kunststück fertiggebracht. Sie haben sich nämlich nicht nur von einer Insel zur anderen gehangelt wie Tarzan von einer Liane zur anderen, sie sind nicht nur Strecken von 20, 40 oder 80 Seemeilen über den offenen Ozean gesegelt - was angesichts dessen, daß die niedrigen Atolle nur wenige Meilen zu sehen sind, auch schon nicht so leicht ist. Nein, die damaligen Seefahrer haben ohne Karten in europäischem Sinne und ohne Sextant und ohne Kompaß nachweislich regelmäßige Handelsfahrten auch über mehrere hundert Meilen unternommen. Wie haben sie das gemacht?

Es hat mich immer ein wenig geärgert, wenn der - ansonsten von mir geschätzte! - wohl populärste deutsche Navigationsexperte, Bobby Schenk, die Navigationsmethoden alter Seefahrervölker jedenfalls in seinen Büchern ignoriert und eher gering schätzt. Das geht zum Beispiel so weit, daß ein einfaches Instrument zur Bestimmung der Mittagshöhe (eine Scheibe mit senkrechtem Stäbchen, das beim höchsten Sonnenstand den kürzesten Schatten wirft) geradezu als eigene ad hoc Erfindung ausgegeben wird, um von den Kanaren aus Barbados zu erreichen: „Ocean ohne Compass & Co." Dabei kannten, wie leicht nachzulesen ist, schon arabische und phönizische Seefahrer dieses Instrument. Man nennt es ein Gnomon. Die Wikinger nannten es Sonnenschattenbrett und bei den Chinesen war das einfache Gerät schon vor 600 v.Chr. als Pei bekannt. Und im europäischen Mittelalter hieß die Weiterentwicklung des arabischen Kamal: Astrolabium, sozusagen ein einfacher Vorläufer des Sextanten. Warum wird das in einem Buch, in dem es vornehmlich um Navigation ohne moderne Hilfsmittel geht, nicht diskutiert oder wenigstens erwähnt?

Heute, da der Fahrtensegler weltweit mit GPS navigieren kann und niemandem etwas beweisen muß, interessieren mich jedenfalls alternative Methoden gerade unter historischem - und menschlichem - Aspekt. Vielleicht ist es noch etwas zu früh es zu sagen, will man niemanden brüskieren, aber eigentlich ist heutzutage sogar ein moderner Präzisionssextant ein Anachronismus - was natürlich nicht ausschließt, daß man Spaß daran haben kann.

Wenn ich mit meiner kleinen Proa in den Lagunen herumsegelte, fiel das den meisten Insulanern wohl kaum auf. Denn nach wie vor dominieren in Ozeanien die Auslegerkanus. Höchstens, daß man sich darüber wunderte, daß mein kleines Auslegerkanu so "rückschrittlich" war, keinen Außenborder zu haben, sondern lediglich ein Segel. Das war bei Sione Abera Tewake ganz anders. Er, etwa 10 Jahre älter als ich, sah meine kleine Proa wohl als eine Hommage an die Traditionen mikronesischer und polynesischer Seefahrt an - und hatte damit ja gar nicht so unrecht.

Der mittelgroße ziemlich muskulöse Mann war den Strand bei Bikenibeu (auf Tarawa) entlang geschlendert, hatte meine kleine Proa dort gesehen und kam nun zielstrebig auf mich zu, der ich gerade faul im Schatten von Palmen lag und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Er trug nur einen Lava Lava, einen Wickelrock, und war bis zu den Waden hoch sehr stark und auch auf der Brust tätowiert. Sogar im etwas breiten Gesicht hatte er Tätowierungen. Ohne diese Verzierungen hätte man ihn wegen seiner Augenform für einen Chinesen halten können. Allerdings war er etwas dunkelhäutiger.

Er wußte wohl nicht so recht, wie er ein Gespräch anfangen sollte. Daher ging er erst einmal um meine kleine Proa herum, betrachtete alles sehr neugierig, faßte verschiedene Teile prüfend an und schien alles - etwas demonstrativ, kam mir so vor - zu begutachten. Weil er mit seinem Lava Lava und seinen vielen Tätowierungen durchaus etwas anders aussah als die Durchschnittsinsulaner, die nämlich meistens Shorts tragen und weniger Tätowierungen haben, ging ich zu ihm hinüber. „Guten Tag. Ist das Kanu richtig gebaut?" setzte ich ihn gleich in die Rolle, die er wahrscheinlich jetzt am liebsten hatte. Ein breites, freundliches Grinsen war ein Moment lang sein Gesicht. Dann nahm er freudig und wichtig seine Rolle auf und machte zunächst einmal ein zweifelndes, fragendes „Yes", und dann in der Intonation konstruktiver Kritik, wie ein Lehrer, der seinen Schüler zugleich lobt: „we'll see". Nach weiterem Anfassen und Prüfen fragte er mich schließlich, warum ich den Rumpf so breit gemacht hätte, sogar den Ausleger. „Das macht das Boot doch so hart, daß du die Wellen nicht mehr mit den Eiern unterscheiden kannst. Es ist besser, sanft zur See zu sein, sonst sagt sie dir den Kurs nicht." Ich wurde sofort hellhörig, denn ich hoffte, vielleicht einen Meister traditioneller Navigation getroffen zu haben. Das ganze wichtige, betont würdevolle, dabei überlegen-ruhige Gehabe von Sione brachte mich auf diese Idee, - obwohl ich mir beim besten Willen nicht denken konnte, was meine Zeugungsorgane mit dem richtigen Kurs zu tun haben sollten. Daher sagte ich rundheraus: „Ich bin Wolfgang. Es freut mich sehr, dich getroffen zu haben, denn ich möchte etwas darüber erfahren, wie deine Väter und Großväter von einer Insel zur nächsten gefunden haben. Kannst du mir darüber etwas erzählen?" „Natürlich! Es gibt heute in ganz Mirkronesien und Polynesien nur einen Mann, der soviel Erfahrung und Kenntnisse hat wie ich. Denn mein Vater war Kao Tewake, der in ganz Ozeanien als großer Navigator bekannt war. Er hat alles von seinem Vater gelernt hat, der wiederum Chefnavigator und Priester aller Inseln von Tonga war. Ich stamme auch von dort. Mein Großvater starb leider sehr früh an Masern, Die Missionare hatten das mitgebracht. - Ich will dich gern unterrichten, weil du dich dafür interessierst und versucht hast, eine Proa zu bauen. - Und du könntest mir ein Radio schenken, wie ihr Jachtleute es habt." Ich beglückwünschte mich erstaunt, daß ich zufällig den größten, lebenden Meister traditioneller Navigation getroffen hatte, so ganz zufällig. Dann machte ich Sione klar, daß ich auf meinen Weltempfänger nicht verzichten konnte, eben weil ich nicht ein so großer Navigator sei noch hoffen könnte, es in kurzer Zeit zu werden. „Aber ich werde Dir eine anderes Geschenk machen. - Etwas, was du sicher gut gebrauchen kannst". Ich hatte zwar noch keine Idee, was ich ihm schenken könnte, aber das würde sich schon finden. Außerdem mißtraute ich Sione und seiner vorgeblichen Meisterschaft natürlich: Ein solcher Zufall war einfach zu unwahrscheinlich.

Ich erfuhr von Sione, warum ein kleines Boot besser sei als ein großes, und warum man mit einer "richtig" gebauten Proa, die also einen schmaleren Rumpf haben müsse, also nicht, wie meine, als Gleiter konzipiert wäre, „mit den Eiern" navigieren könne: „Einmal segelten mein Vater Kao Tewake (Sione wurde nicht müde, den Namen Tewake zu erwähnen) von der jungen Insel, die heute Banaba heißt, zurück nach Maiana. Aber schon bald war Tawhiri-matea (der Gott der Winde) wütend und schickte uns wilde Böen aus Nordwest und so viele Wolken, daß wir keine Sterne mehr sehen konnten. Denn es war Nacht. Aber das war kein Problem. Denn etwa alle fünf Minuten spürten wir in den Eiern hoa delatai, die große Meereswoge, die von sehr weit und immer aus einer Richtung kommt. Und so wußten wir, welchen Kurs wir zu steuern hatten. Natürlich, das war ganz leicht. Kurz vor unserem Ziel, sahen wir Tölpel. Die fischen tagsüber und entfernen sich hier niemals weiter als 20 Meilen vom Land. Also warteten wir bis zum Abend und folgten dann den Tölpeln, die uns schnurgerade nach Maiana führten. Tagsüber, wenn man die Wellenmuster sehen kann, ist es natürlich leichter, den Weg zu finden. Denn dafür haben wir die mattang. Das sind Stabkarten aus zusammengebundenen Palmwedelrippen mit eingeknüpften Kaurimuscheln für jede Insel. Natürlich, das ist ganz leicht." Junge Inseln - damit meinte Sione höhere Vulkaninseln - seien leicht zu finden, denn an ihrer Luvseite stehe meistens eine Wolke, deren Unterseite grünlich sei. Auch alte Inseln, also Atolle, kann man auf diese Weise an den Wolken erkennen. An der Unterseite sieht man dann die Reflexion der helltürkisen Lagune. Nur werden die Wolken über Atollen nicht festgehalten. „Letzes Jahr bin ich mit meinem Segelkanu zu den höchsten Bergen der Erde gefahren (Sione meinte damit die über 1500 Meilen entfernten Marianen, Vulkaninseln, deren Sockel 11km in die Tiefe des Marianengra-bens reichen). Natürlich, das war ganz einfach, denn ich kannte von Hi-pour, einem Navigator auf den Karolinen, den richtigen kaveinga. So nennen wir den Sternenweg. Man richtet den Kurs nach einem Stern aus, der auf dem geplanten Kurs auf- oder untergeht, - oder man segelt eine Handbreit seitlich davon. Wenn der Stern zu hoch steigt oder sein Bad im Meer genommen hat, sucht man sich den nächsten Stern in der gleichen Reihe. In einer Nacht braucht man zwischen 6 und 8 Sterne. Natürlich, das ist ganz leicht. Mein Vater Tewake hat niemals eurem Kompaß getraut: der kann nämlich die falsche Richtung anzeigen, die Sterne niemals. Wenn man auch noch weiß, welcher Stern zu einer bestimmten Zeit genau über einer Insel steht, kann man ganz einfach dorthin segeln, wo der Stern genau im Zenit steht. Das ist ganz leicht, aber man braucht ein gutes Gedächtnis!

Wenn man sich alle Sternpositionen merken könnte, wüßte man mit dieser Zenitmethode ganz ohne eure komplizierten Rechnungen zugleich den Breiten- und den Längengrad, also den genauen Schiffsstandort. Das ist viel einfacher als mit einem Sextanten. Und dann habe ich mich auch einfach nach den uloa etahi gerichtet. So nannte mein Vater Tewake die Tiefseeblitze. Hier in Kiribati nennt man sie te mata. Sie leuchten eine kurze Zeit lang etwa 2 Meter unter der Wasseroberfläche auf. Wenn man für eine Gegend ihre Richtung kennt, ist es natürlich ganz leicht, nach ihnen zu steuern. Denn sie sind in ihrer Richtung stabil. Natürlich, das ist ganz leicht. Am Tage navigiere ich nach der Sonne und nach Wellen - und auch nach der Windrichtung, denn jeder Wind schmeckt anders und bringt seine bestimmten Wolken mit. Wenn die Sonne aufgeht merke ich mir den Kurs am Schattenwurf des Mastes. Aber man muß sich viel merken können! Auch die Strömungen muß man kennen: die muß man ausgleichen, indem man zum Beispiel nicht genau auf den kleinen Bären zuhält, sondern drei Daumen weiter nach Osten steuert. Sonst kommt man nicht präzise dort an, wo man hin will. Natürlich, das ist ganz leicht, aber wir haben ein Sprichwort, das mir mein Vater Kao Tewake gesagt hat: Wenn du wissen willst, wie viele Muscheln auf dem Strand liegen, versuche nicht, sie zu zählen. Damit meinen wir, daß ein guter Navigator sich nicht auf einzelne Hinweise verläßt, sondern nur auf alle zusammen. Als mein Vater Kao Tewake 73 Jahre alt war, sagte er zu mir, daß er sich sehr alt fühlte. Dann verabschiedete er sich von der Familie und brach mit seinem Kanu zu einer Reise auf, von der er niemals wiedergekehrt ist".

Sione erzählte mir noch von so manchem Abenteuer und Navigations-Lehrstück auf See. Demnach mußte Sione mehr Zeit auf dem Meer verbracht haben, als ein durchschnittlicher Amerikaner vor dem Fernseher. Je länger er erzählte, desto würdiger und überlegener wurde sein Gebaren - aber auch desto unvorsichtiger. Denn er lud mich schließlich zu sich nach Hause zum Essen ein. Zusammen mit seiner Frau und drei Kindern lebte er keine 500 Meter weiter in einem Zwei-Zimmer-Haus aus Wellblech und Palmwedeln. Sione begrüßte liebevoll seine kleine, dickliche Frau und noch liebevoller seine kleinen Kinder.

Wir setzten uns auf die geflochtenen Matten und aßen Taro, Brotfrucht und Bananen zu einem Hängen aus dem Supermarkt. In einem winzigen Regal mit den bescheidenen Habseligkeiten der Familie, neben dem wahrscheinlich immer eingeschaltetem Fernseher, bemerkte ich ein einzelnes Buch, das schon völlig zerlesen und abgegriffen war: David Lewis, „We, the Navigators". Und als Sione mich nach dem Essen gerade wieder hinaus und zurück zu meiner kleinen Proa geleiten wollte, rief ihm seine Frau hinterher: „Aber bleib' nicht wieder so lange weg: du mußt noch die Trinknüsse holen. - Seit Jahren sitzt du nur herum und träumst von großen Seefahrten und tust so, als wärst du, der du nie aus der Lagune gekommen bist, ein großer Navigator, - anstatt zu arbeiten!" Sie sprach mikronesisch. Ich hatte aber allein durch den Tonfall und ihre Gestik jedes Wort verstanden..."

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