In
den Wind gesprochen (32):
Checkliste
für den zweitschlimmsten Fall
Darüber gibt es unter einigermaßen
befahrenen Blauwasserseglern wohl kaum einen Zweifel: Der "worst
case" ist Mann/Frau über Bord. Nun ist es ja nicht so, dass an Bord einer
Langfahrtyacht auf hoher See ständig mehrere Crewmitglieder an Deck sind, die darauf lauern, mal ein schulmäßiges Mann-über-Bord-Manöver fahren
zu können. Vielmehr ist es der Regelfall, dass einer an Deck ist und überhaupt nicht mitbekommt, dass der Skipper oben – meist ist es ja ER, der beim Pinkeln an der Reling rausgeschleudert wird –
im Wasser ist und entgeistert der davonsegelnden
Yacht nach sieht. Falls der Unfall doch bemerkt wird, hat der Mann im Wasser auch kaum bessere Karten. Bis man sich vom ersten Schrecken erholt hat, sind schon ein
paar überlebenswichtige Momente vergangen. Dann muss erst die
Selbststeueranlage ausgekuppelt werden, der Bullenstander losgeschmissen werden
und schließlich müssen die Segel runter. Mit fast hundertprozentiger
Sicherheit hat die Yacht dann soviel Strecke zurückgelegt, dass der
Verunglückte nicht mehr ausgemacht werden kann, nachts sowieso nicht. Und damit ist er,
außer Landsicht,
mit größter Wahrscheinlichkeit verloren.
Der zweitschlimmste Fall ist wohl
die Aufgabe der Yacht. Nein, ich rede hier nicht vom Deutschen Lüchtenborg, der
sich von seiner eisbergfesten 16 Meter langen Aluyacht in den brüllenden
Vierzigern abbergen ließ, um sie für ein paar Tage auf dem
offenen Ozean alleine zu lassen, sie halt auf hoher See zu parken. Denn er hat
ja, sagt er, von vorneherein die Absicht gehabt, auf sie wieder zurückzukehren.
Ein beachtlicher Sonderfall! Gemeint ist die Aufgabe der Yacht für immer, wenn
sie dabei ist, unterzugehen, oder abzubrennen. Es ist schön und beruhigend,
dass es immer wieder Vorfälle gibt, wo Retter, oft unter Einsatz des eigenen
Lebens, meist kostenintensiv, wenn ein Großer den Kurs ändern muss, auf hoher
See herbeieilen oder -fliegen, um dem oder den Kameraden zu helfen. Nur leider
kommt es auch vor, dass eine Yachtbesatzung, wohl in Panik, die Situation falsch
einschätzt, und ein heile Yacht auf dem Ozean aufgibt, obwohl dies - objektiv
und rückblickend gesehen - gar nicht notwendig gewesen wäre. Einerseits missbrauchen sie
dann die Hilfsbereitschaft von Menschen, andererseits lassen sie ein treibendes
(und unbeleuchtetes) Seefahrtshindernis zurück.
Gewiß, vom sicheren Ankerplatz aus,
läßt
sich über diese Kameraden vortrefflich richten. Aber Gedanken machen darf man
sich da wohl: Da ist der Fall der finnischen Kunststoff-Yacht, SERENA,
die von ihrer Mannschaft, Arja und Henrik Hankalahti, nahe der spanischen
Nordwest-Küste im Juni 2013 "aufgegeben" wurde. Und dann - führerlos
ein halbes Jahr später in Westindien treibend aufgetaucht ist. Die Frage, die
hier wohl jeder mit ein paar Seemeilen auf dem Buckel stellen wird, ist die nach dem
Grund der Flucht von Bord. Die Mannschaft berichtet, dass eine zwanzig(?) Meter
hohe Welle die Aufbauten beschädigte, das Mittelcockpit überschwemmte und zwei
Rettungswesten über Bord gewaschen wurden, sodass nur eine übriggeblieben war.
Anschließend versagte auf dem Segelschiff(!) die Elektronik. Punkt?
Da ist nirgendwo die Rede davon,
dass die Crew davon ausgegangen ist, dass beide Crewmitglieder ernsthaft
gesundheitlich gefährdet waren oder dass die Yacht am Sinken sei (was sie
bewiesenermaßen ja niemals war). Schließlich war die gute Yacht (man ist
versucht, sie "tapfer" zu nennen), allein auf sich gestellt, ein
halbes Jahr auf dem Atlantik herumgesegelt. Es ist ja nicht so, dass innerhalb
von wenigen Sekunden entschieden werden muss, von Ausnahmen mal abgesehen: Was
mit der deutschen Yacht OLE HOOP (Foto) geschehen ist, weiß niemand.
Aber nachdem ihre aktivierte Epirb - und sonst nichts - vor Kap Hoorn gefunden
worden war, kann man davon ausgehen, dass deren Untergang, selten genug, eine
Sache von Sekunden gewesen ist.
Man lehnt sich gewiss nicht zu weit
aus dem Fenster, wenn man im Fall der finnischen SERENA
konstatiert, dass das Herbeirufen der
Retter und das Verlassen der Yacht überflüssig war. Doch warum ist es zu
dieser, im Normalfall sehr teuren Fehlentscheidung gekommen? Die Antwort, da bin
ich mir ziemlich sicher: Panik!
Ich kenne sehr wohl (aus meinen
Fliegertagen) das aufkommende Gefühl der Angst, des Durchdrehens. Wenn der
einzige Motor anfängt zu stottern, die aus fast 10 Kilometer Tiefe die
Eisberge entgegenglitzern und eine innere Stimme anfängt zu schreien: "Nur
raus hier!" Was objektiv beurteilt natürlich Nonsense ist.
In diesem Zusammenhang fällt mir
der amerikanische Nationalheld und Flugkapitän Chesley B. Sullenberger ein,
dessen Geschichte zu recht um die Welt gegangen ist. Kurz nach dem Start von
US-Airways-Flug 1549 in New York mit 155 Menschen an Bord blieben beide Maschinen
wegen Vogelschlags stehen. Eine Situation, die unter normalen Umständen den
sicheren Tod für alle bedeutet. Denn der Besatzung blieben gerade mal ein paar
Minuten, den Airbus A320 im rasenden Sinkflug zu seiner Absturzstelle zu
bringen. Ich bin überzeugt, dass auch bei Sullenberger
(den später Barack Obama zu seiner Amtseinführung als großen amerikanischen
Helden eingeladen hatte) für einen Moment das Gefühl hochkam: "Nur raus
hier!"
Aber Sullenberger
war eben ein Profi und handelte rationell, so wie er es bei seiner Ausbildung
gelernt hatte. Er ließ sich in den verbleibenden (und mutmaßlich letzten Minuten
seines Lebens) bis zum unweigerlichen
Absturz die Checklisten ("in case of emergency") für diesen Notfall
vorlesen und arbeitete sie mit seiner Crew Punkt für Punkt ab. Solche Nerven muss man erst mal haben, angesichts des
wahrscheinlichen Todes sich technische Details
vorlesen zu lassen und diese auch noch zu verstehen. Und er brachte die Maschine
auf den Hudson River runter, bestimmt der einzige denkbare Platz für eine
Notlandung in New York. Ohne ein einziges Menschenleben zu verlieren. Und warum?
Weil er und seine Crew nicht durchgedreht hatten.
In der Fliegerei ist zwingender
Standard, Checklisten zu vertrauen. Grob fahrlässig ist es nicht, das
Fahrgestell nicht ausgefahren, wohl aber die Checkliste nicht abgearbeitet zu haben. Warum sollten wir
Hochseeskipper uns diese über hundert Jahre bewährte Philosophie nicht auch
aneignen? Kostet ja nichts, außer einem eingeschweißten Blatt Papier!
Vielleicht, hoffentlich, läßt sich
damit das menschlich verständliche, objektiv aber irreführende Gefühl
"nur raus hier!" niederkämpfen. Es wären nur ein paar Zeilen,die uns
in der Panik vor falschen, teuren, eventuell auch lebensgefährlichen
Fehlentscheidungen bewahren könnten. Zum Beispiel:
-
Nicht
löschbares Feuer an Bord? Wenn ja,
Schiff verlassen!
-
Yacht
sinkt? Wenn ja, Schiff verlassen!
-
Yacht
ist auf Legerwall und droht, an der Küste zerschmettert zu werden? Wenn
ja, Schiff verlassen!
-
Alle
(!) Crewmitglieder erheblich verletzt (Lebensgefahr)?
Wenn ja, Schiff verlassen!
-
Yacht
für immer manövrierunfähig? Wenn ja,
Schiff verlassen!
-
Ansonsten: An
Bord bleiben und eventuell Hilfe herbeiholen!
Eine solche Checkliste (auf der
Rettungsinsel, am Niedergang, auf dem Überlebenscontainer) schadet zumindest
nicht. Und bewahrt vielleicht vor krassen Fehlentscheidungen. Es ist nur ein -
vielleicht sehr wertvolles - Blatt Papier. Wem es das nicht wert ist, für den
hab ich in den Wind gesprochen.
Bobby Schenk
zur
Home-Page
Page by Bobby Schenk
E-Mail: mail@bobbyschenk.de
URL of this Page is: https://www.bobbyschenk.de/n004/inwind32.html
Impressum und Datenschutzerklärung
|
|