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Die psychische Komponente bei der Seekrankheit

von Bobby Schenk  

Ja, es gibt sie, die vermeintlich Hartgesottenen, die da zu Beginn eines Törns lauthals verkünden: "Ich werde nie seekrank"! Allerdings habe ich auf meinen zahlreichen Törns mit Gästen immer wieder erlebt, dass selbst diese triumphierenden Segler gnadenlos eines Besseren belehrt worden sind.  

Es gibt Millionen von Menschen, die von der Seekrankheit geplagt werden. Und sicher sind tausende unter uns, die gerne, sehr gerne segeln würden, die es aber nicht wagen, weil sie kein erfolgreiches Rezept gegen diese Geißel kennen. So ist es kein Wunder, dass sich beim Googeln mit dem Stichwort "Seekrankheit" unter den zigtausend Artikeln , die je zu diesem Thema verfasst worden sind, Artikel von dieser Webseite (www.bobbyschenk.de/n004/seekrank.html) unter den ersten fünf Fundstellen auf der größten Suchmaschine Google präsentieren. Nebenbei: Bemerkenswert, welche Rolle das Yachtsegeln angesichts eines doch  allgemeinen Problems einnimmt. Denn von dieser Bewegungskrankheit sind nicht nur wir Segler betroffen, sondern auch Autofahrer, Berufs-Seeleute, Passagiere im Flugzeug, Soldaten auf Kriegsschiffen, Karussellfahrer, ja Zugfahrer. Kurzum, die Seekrankheit, oder wie man sie auch nennen möchte, wütet mehr oder weniger stark überall, wo sich der Boden oder auch nur der Horizont bewegt.  

Unzählige Mittelchen gegen dieses Übel wurden und werden erfunden und gefunden. Wie qualvoll dieses Problem für viele ist, zeigt die Tatsache, dass, wenn von Zeit zu Zeit "neue Erkenntnisse" oder "Wundermittel" publiziert werden diese Rezepte geradezu gierig aufgesogen werden. Schon im Altertum, wahrscheinlich bei Odysseus selbst (wenn das asiatische Kraut damals schon bis ins Mittelmeer gelangt sein sollte), wurden Leinenbeutelchen auf der Brust, gefüllt mit Ingwer, gegen die Pein des Kotzens empfohlen. Wann das Armband, das mit einem Druckpunkt versehen ist und wohl nach dem Prinzip der Akupunktur funktionieren soll, aufgekommen ist, entzieht sich meinem Wissen. Nadelstiche in der Ohrmuschel, einem ähnlichen Prinzip folgend, wurden schon vor 15 Jahren auf dieser Webseite vorgestellt, hier kann man es nachlesen. In den achtziger Jahren wurde den  Seglern generell das angeblich nebenwirkungsfreie Stutgeron (eigentlich ein Herzmittel, heute "Stugeron") empfohlen (heute, nach vielen tausend Mißerfolgen spricht niemand mehr davon), später wurden spezielle Brillen gegen die Seekrankheit propagiert und schließlich in neuerer Zeit Gegenbewegungen auf dem Boden liegend oder auch nur Zitronensaft (Vitamin C) oder Histamin.  

Alle diese Mittelchen haben eines gemeinsam, trotz aller optimistischer Ankündigung: Sie sind kein Allheilmittel gegen die grauenvolle Seekrankheit! Der Markt weltweit wäre gigantisch, wenn es endlich erfunden würde. Man denke nur an die militärische Anwendung, wenn zum Beispiel ein Landungsmanöver mit zigtausend Soldaten bevorsteht, wie beispielsweise bei der Landung der Alliierten in der Normandie 1944, wo eine ganze Armee vor der Kanalüberquerung zentnerweise mit Tabletten gegen die Seekrankheit vollgepumpt wurde - offensichtlich mit beachtlichem Erfolg, denn mit sich ständig erbrechenden Gis könnte man sicher keine Schlacht gewinnen.

Oder trat die schützende Wirkung womöglich vor allem deshalb ein, weil die Soldaten siegessicher oder sonst wie mental aufgeputscht waren? Hätte man Ihnen auch Placebos verabreichen können?  

Vielleicht, denn eines ist auch für Laien leicht ersichtlich, das Problem der Seekrankheit spielt sich nicht nur im Mittelohr ab, sondern schlicht und einfach auch(!) im Kopf, in der Psyche.

Wahrscheinlich kennen Sie alle das Phänomen: Es gibt Menschen mit Führerschein, die als Beifahrer im Auto immer wieder mal seekrank werden ("mir ist soo schlecht"), aber niemals, wenn sie selbst am Lenkrad sitzen. Es gibt Piloten, die als Passagiere im Flugzeug nicht 100%ig "seefest" sind, die sich aber - Gott sei Dank – nicht  übergeben müssen, wenn sie als Lenker im Cockpit sitzen. Warum wohl - den Trick kennt jeder von uns Fahrtenseglern – setzt man einen Neuling auf der Yacht, der über beginnende Übelkeit klagt, ans Ruder mit dem Auftrag, ja gradgenau den Kurs zu halten ?  Was ihn auch dann meistens vor Schlimmerem bewahrt. Warum fühlen sich Segler unterwegs gelegentlich ganz wohl, bis Sie in der Pantry der bruzzelnden Pfanne mit Ölgeruch ausgeliefert sind, und warum kommt es gelegentlich zum Letzten, wenn man den Kopf unter die Motorhaube stecken muss und einem der Dieselgeruch in die Nase steigt?  

Die Antwort ist einfach: Weil die Ursachen für die akute Seekrankheit auch(!) im mentalen Bereich zu suchen sind.

Deshalb eine Zusammenfassung für die Gründe dieser unter Umständen verheerenden Krankheit  - es ist Tatsache, dass Fälle passiert sind, und das gar nicht (ungewöhnlich) selten, in denen (dass) die Opfer über Bord springen wollten, um ihre Lage zu "verbessern":

Zweifellos wird die Krankheit ausgelöst durch Bewegungen, die der Körper und/oder das Auge wahrnimmt und die vom zuständigen Mechanismus im Mittelohr nicht mehr koordiniert werden können. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn das Opfer Angst davor hat, sich in existenzieller Missstimmung befindet und/oder ohnehin schon eine Grundübelkeit vorliegt, wie zum Beispiel nach einem opulenten Abendessen mit viel Alkohol zur Einstimmung auf den bevorstehenden Urlaubstörn.  

Wie sehr die Psyche eine große Rolle bei der Bekämpfung der Krankheit hat, zeigt folgende wahre Begebenheit: Die Ehefrau des begeisterten Seglers Dr.B. wird "dauernd seekrank in den Segelurlauben". Nun ist Dr.B. von Beruf Anästhesist, ist also in der Frage, wie man mit dem Bewusstsein umgeht, von Berufs wegen hoch professionell ausgebildet und damit täglich konfrontiert. Und so hat Dr. B. seiner Frau zuliebe eine Idee, die bei dieser Problematik geradezu genial erscheint. Er sagt, dass er seinen Patienten nach erfolgter Operation ein bestimmtes Mittel gebe, um Übelkeit beim Aufwachen aus der Narkose und damit verbundenes Erbrechen zu vermeiden. Was liegt näher, als dieses Mittel, das bei seinen Patienten zuverlässig wirkt, seiner Frau bei Törnbeginn zu verabreichen. Gesagt getan - und die Seekrankheit war bei den nachfolgenden Törns wie weggeblasen!  

Hanna W., nicht sehr erfahrene und auch nicht enthusiastische Seglerin, die aber immer wieder (wegen ihrer patenten Art) zu Segeltörns eingeladen wird, leidet unter einer Anfälligkeit gegen die Krankheit mit entsprechenden Konsequenzen. Alle möglichen Mittelchen hatte sie schon vergeblich ausprobiert, von verschiedensten Tabletten gegen die Reisekrankheit bis zu dem berühmten Pflaster hinter dem Ohr. Letzteres enthält den Wirkstoff Skopolamin (übrigens: bei Überdosis ein tödliches Gift) und bewirkte  bei ihr gar nichts, bis auf die Tatsache, dass krasse Nebenwirkungen auftraten. Kurzum: Sie hat es nicht vertragen und somit nicht mehr verwendet. Als Hanna W. nun von der erfolgreichen Methode des Anästhesisten Dr.B erfahren hat und von der tollen Wirksamkeit gegen ihre Neigung zur Seekrankheit überzeugt war, ließ sie sich dieses recht teure Medikament verschreiben und nahm es zu Beginn des Atlantiktörns vorschriftsmäßig  ein.

Dann das schwer Erklärliche: Die geniale Idee von Dr.B. versagte bei Hanna W. vollkommen. Das alte Lied!

In einem der angelaufenen Häfen klagte sie einem älteren, verständnisvollen und offensichtlich sehr segelerfahrenen Ehepaar ihr Leid, worauf diese Ihr ein Pülverchen gaben mit der Versicherung, das würde ganz bestimmt helfen. Und, oh Wunder, es war so. Die Krankheit machte sich den ganzen wochenlangen Törn auf dem Atlantik auch unter raueren Bedingungen nicht mehr bemerkbar. Allerdings konnten die freundlichen Segler Hanna W. nichts über das Medikament, das sie so erfolgreich konsumiert hatte, sagen, außer der Tatsache, dass sie das Pülverchen in einer Apotheke in Antwerpen, auch Herstellerin des Medikaments, bezogen hätten.  

Aber es war gar nicht leicht, das Mittelchen für die Zukunft zu besorgen, weil die Apotheke in Belgien es ablehnte, das Arzneimittel auf dem Versandweg zu verkaufen. Also blieb nichts anderes übrig, als umständlich eine Helferin mit dem Zug nach Belgien zu schicken, um das erfolgreiche Mittel gegen die Seekrankheit zu kaufen. Dieser riesige Aufwand schien bei solchen Erfolgsaussichten vertretbar.  

Endlich in Händen, konnte Hanna W. die Bestandteile dieses Wundermittels herausfinden: Neben Tripelenamin (einem Histamin) eben genau dieses Skopolamin als Hauptwirkstoff, das sie als Pflaster einfach nicht "vertragen" und das auch nicht die erhoffte Wirkung erzielt hatte.  

Die Erkenntnis, wieder einmal: Der Glaube versetzt Berge. Und: Neben(!) entsprechenden medikamentösen Mitteln ist die psychische Bereitschaft, das Segeln als wunderschönes Erlebnis anzuerkennen, die Grundvoraussetzung, um vor der Seekrankheit erfolgreich zu bestehen. Wem das nicht gelingt, hat schlechte Karten.  

Angst beim Segeln ist natürlich die beste Voraussetzung, um seekrank zu werden. Die kann man eigentlich nur mit Vernunftgründen bekämpfen, und ist auch nur dann erfolgreich, wenn man sie energisch eliminieren will. Gelingt das nicht, wird man in ernsten Momenten oder selbst in einer Flaute der Seekrankheit nicht entgehen. Dabei ist die Angst beim Fahrtensegeln fast immer überwunden, wenn man mal begreift, dass die Gefahr beim Segeln generell ungleich geringer ist, als zum Beispiel beim Autofahren. Und: Wann geht schon mal eine Yacht unter (ohne dass die Besatzung gerettet wird)? Wann kann man schon über Bord fallen, wenn man das Cockpit nicht verlässt oder sich zumindest anleint. Wann kommt man schon in kritische Situationen, wenn man sich einem erfahrenen Skipper auf einem modernen Schiff (wie es heute Charteryachten bei renommierten Firmen im allgemeinen sind) anvertraut?  

Ganz schlecht und ebenfalls eine wunderbare Voraussetzung für die Seekrankheit ist der bewusste oder unbewusste Widerwillen gegen das Segeln. Gibt es nur selten? Von wegen!

Wenn ich höre: "Meine Frau/Freundin wird immer seekrank." Dann kenne ich in den meisten Fällen den Hintergrund schon. Nämlich - stark verallgemeinernd, begeisterter Segler trifft Frau, die es liebt, regelmäßig einen Töpferkurs zu besuchen (weiß schon, ist nur ein mehr oder weniger passendes Beispiel, aber selten genug ist es eben umgekehrt). Die beiden beschließen zusammenzuleben und ihren Hobbies gemeinsam nachzugehen. Da Er aber nicht die geringste Lust hat, nunmehr zu töpfern oder Ähnliches, passiert in einer Vielzahl von Fällen das , was jeder von uns erwartet: Zusammen wird gesegelt, ihm zuliebe! Die Konsequenz kennt der Leser - siehe oben.

Zahlreiche Ehen oder Lebensgemeinschaften sind darüber zerbrochen. Und viele Alleinsegler auf den Weltmeeren haben zu Hause die widerwillige Ehefrau zurückgelassen.  

Zugegeben, die Regel ist das nicht. Aber: Was hilft dagegen? Nur eins, der zögernde Teil muss sich eben auch fürs Segeln begeistern, nicht nur des Mannes wegen halt "mitmachen", was häufig zwangsläufig dann in der Kombüse endet, also dort, wo die Seekrankheit meist auch zu Hause ist. Die Frau fürs Segeln, hauptsächlich eine technische Tätigkeit, zu begeistern, ist nicht immer einfach und hängt wesentlich mit der sportlichen Einstellung der Betroffenen zusammen. Gemeinsame Segelkurse mit nachfolgender Prüfung (wunderbar, wenn Er durchfällt, sie aber nicht!), leichte Schönwettertörns mit vielen Badeaufenthalten, helfen garantiert viel. Tristes Wetter allein schon drückt auf die Stimmung. Am schlimmsten und destruktivsten ist es, in schlechtes Wetter hineinzusegeln, statt einen kurzweiligen Hafentag mit Besuch der hafenansässigen Boutiquen einzulegen. Der Tagespreis fürs Charterschiff ist da eine Triebfeder, ins Unglück für die Zweisamkeit zu segeln. Das ist sicher für machen Herrn der Schöpfung nicht ganz leicht, denn der möchte ja mal "einen richtigen Sturm erleben" oder ähnliche Dummheiten durchziehen. Das kann richtig kostspielig werden oder führt im günstigsten Falle zu den berüchtigten Herrentörns ("mein Mann segelt ja so gerne, ich aber bleib lieber daheim")  

Die Lehren:

a) es gibt keine hundertprozentigen Mittel gegen die Krankheit. Medikamente, die in diese Richtung wirken, haben fast immer sehr unangenehme Nebenwirkungen (Depression, Müdigkeit bis hin zu Halluzinationen etc)

b) Gründe, warum es uns erwischt, finden sich auch(!) im mentalen Bereich. Angst, Stress, aber auch Unlust und Widerwillen gegen das Segeln oder sonstige Nöte sind wirksame Helfer der Seekrankheit.  

Zum Schluss noch was Tröstliches: Wie bekannt, hören die Symptome der Seekrankheit in Minutenschnelle auf, sobald man wieder festen Boden unter sich hat. Klar, dass auch hier die Psyche hilft. Unterwegs klingt die Krankheit in den allermeisten Fällen nach zwei oder drei Tagen von selbst ab und man kann dann den Törn beschwerdefrei genießen. Das kann ich jedenfalls für mich behaupten, der ich nicht ganz unempfindlich bin (gelegentlich nehmen Karla und ich schon zu Beginn eines Törn die eine oder andere Tablette). Kaum jemand aber, außer dem Langfahrt- und Blauwassersegler ist ja zwei oder drei Tage ununterbrochen unterwegs. Und so kommen die meisten Charter- und Urlaubssegler leider gar nicht in den Genuss dieser Wohltat.   

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