Reihenhausgroßer Bergy stellt sich in den Weg der VERA
040 - Durch den »Le Maire Kanal« nach »Cholet Island« und »Port Lockroy«
Hallo Ihr Lieben!
Der tiefe Einschnitt an der Südküste von »Lautaro Island« erweist sich als unerwartet guter und sicherer Zufluchtsort. Das flache Wasser der Bucht hält größere »Bergy Bits« fern, was sehr beruhigend wirkt. Wir bleiben ein paar Tage im Päckchen neben der HAIYOU, kochen, diskutieren und genießen den Blick auf die muntere Eselspinguinkolonie gleich neben den Booten, wo täglich neue Küken schlüpfen und gut betuddelt werden.
Dann: Ein strahlend blauer Morgen nach einer stürmischen Nacht, endlich Flaute aus allen Richtungen, einfach perfekt, um endlich einen Blick in den fotogenen »Le Maire Kanal« zu werfen, der in dieser Saison wegen des ungewöhnlich dichten Eises kaum befahrbar sein soll, noch nicht einmal von den größten Kreuzfahrtschiffen. Auf dem UKW Funk hörte man bisher immer von großen Schwierigkeiten oder spektakulären Umkehrmanövern. Doch nun sollen einige Dampfer durchgekommen sein. Nun denn…
Ein perfekter Morgen in der südlichen »Gerlache Straße«.

In der südlichen »Gerlache Straße« kommen wir noch gut voran. Das berüchtigte, normalerweise sturmumtoste »Kap Renard« mit seinen eisigen Zinnen bleibt an Backbord, als wir in den »Le Maire Kanal« einbiegen. Im Kielwasser der HAIYOU fühlen wir uns zunächst noch sicher und beobachten allerhand Getier am Wegesrand. Aber dann kommt es knüppeldicke: Die Eisdecke schließt sich immer mehr, größere Schollen, »Growler«, »Bergy Bits« und ausgewachsene Eisberge liegen im Weg, der immer länger wird: Zickzackfahrt mit langwierigen Ausweichmanövern. Auch die von der Tide verursachte Strömung macht uns alsbald schwer zu schaffen, schiebt uns gelegentlich zurück auf dem Weg, den wir mühsam erkämpft haben. Und: Immer öfter schließt sich der von der HAIYOU vor uns aufgebrochene Kanal direkt hinter ihrem Heck, so dass wir einige male heftig ins Eis krachen. Das ist laut und fühlt sich an wie »Autoscooter« fahren auf dem Jahrmarkt. Sollen wir umkehren? Wären wir allein hier, so hätten wir längst das Weite gesucht. Stunde um Stunde kämpfen wir uns voran. B
(=Britta) verbiegt am Bug unsere Eislanze und M (=Michael) hat große Mühe, maximal einen Meter hinter der HAIYOU zu bleiben. Es gelingt uns nicht so recht, die Szene zu genießen, oder auch nur Photos zu machen. Dieses Revier fordert und laugt aus. Als wir am Ausgang des engen »Le Maire Kanal« das Südkap von »Booth Island« runden, ist definitiv der südlichste Punkt dieser Reise erreicht: 65 Grad und 7 Minuten, südlicher Breite, versteht sich. Mehr geht nicht, zumindest nicht mit unserem Booten. Die sonst guten Ankerplätze um »Pleneau Island« und der Ukrainischen Forschungsstation »Vernadsky« sind in dieser Saison noch immer solide zugefroren.
SY HAIYOU am »Kap Renard«.

Blick zurück auf das »Kap Renard«: Zwei eisige Zinnen wie aus dem
Märchenbuch.

Im Kielwasser der HAIYOU am Eingang des spektakulären »Le Maire Kanals«.

Vereister »Le Maire Kanal«: Drei Faultiere am Wegesrand.

Vereister »Le Maire Kanal«: Action auf der HAIYOU.

Nach dem harten Tag im »Le Maire Kanal« sehnen wir uns nach einem sicheren Zufluchtsort. Das GFS droht uns mit starkem Ostwind, ab morgen Mittag. Auf dem UKW erfahren wir, dass »Port Charcot«, der normalerweise beste Platz in dieser Ecke derzeit ungenießbar ist. Munter herumtreibende großformatige Eisberge überall. Aber Edd, der junge Kapitän der PELAGIC AUSTRALIS hat uns da einen Geheimtip gegeben: »Cholet Island«, unweit von »Port Charcot«. Da soll es einen kleinen, gut gegen Nord oder Ostwind geschützten Einschnitt geben, mit brauchbaren Felsen für die unabdingbaren Landleinen. Gemeinsam mit der HAIYOU Crew arbeiten wir drei Stunden wie die Berserker um beide Boote so gut es geht abzusichern. Wir bringen sogar Leinen aus, die quer über die kleine Insel zum anderen Ufer führen, wo es bessere und schwerere Fixpunkte gibt. Dann ist es getan. Wir können auf einen großartigen Tag anstoßen und den Wendepunkt unserer Reise. Nachts gehen wir abwechselnd Eiswache. Wer weiß, was da noch so in die Bucht getrieben wird.
»Ankerplatz« auf »Cholet Island«: Abendstimmung.

»Cholet Island«: Gute Nacht.

In der dritten Nacht ist es soweit, natürlich gegen Mitternacht. Ein reihenhausgroßes »Bergy Bit« ist von einem größeren Tafeleisberg draußen vor »Cholet Island« abgebrochen und treibt nun mit dem Tidenstrom auf uns zu, gegen den schwächelnden Ostwind. Wir müssen weg, schnell weg. In größter Eile bergen wir unsere zahllosen und hunderte von Metern langen Landleinen. Der fette Eisberg verfehlt den Bug der VERA lediglich um einen Meter. Draussen vor der Bucht sind wir total erledigt und schweißgebadet. Auf Deck liegen Fender und Berge von unklaren und tropfnassen Leinen. Was jetzt? »Port Lockroy« auf »Wienke Island«? Durch die eisige Nacht? Der »Hafen« der ehrwürdige Britische Forschungsstation liegt 22 Seemeilen nordöstlich von hier. Wir wissen nicht wie viel Eis noch immer in der südlichen »Gerlache Straße« liegt, das bei schlechtem Licht kaum zu sehen sein dürfte. Dennoch beschließen wir, es zu versuchen, vor allem weil der Wind nur schwach weht und noch weiter abnehmen sollte…
Diese Kalkulation erweist sich als Fehler. Die Türme von »Kap Renard« peilen unter einem spektakulär leuchtenden Vollmond querab, als der Wind unerwartet auffrischt. 20 Knoten, dann 30 und mehr, aus NE, natürlich genau von vorn. Hoher, ätzender Seegang jetzt. Der VOLVO läuft auf vollen Touren. In Böen bringt das jetzt noch zweienhalb Knoten über Grund. Kaltes, weißes Salzwasser wälzt sich über das Deck der VERA. B und ich starren mit tränenden Augen in die Nacht. Eis! Ständig müssen wir ausweichen. Ich (M) sehe nichts. Salz auf der Brille, die ohnehin nichts taugt. Bald sind wir klatschnass und tiefgefroren. Auf der HAIYOU sitzen sie jetzt im geheizten Steuerhaus hinter Panzerglas. Die Eiswache draussen wird stündlich abgelöst. Das gibt zu denken. Stunden später: Im Windschatten von »Wienke Island« lässt der Wind ein wenig nach. Zwei große Buckelwale spielen ein paar Bootslängen querab im Mondlicht. Ein herrlicher Anblick. Es ist fast geschafft. Im Morgengrauen erreichen wir »Port Lockroy«, wo mindestens sechs andere Yachten Schutz gesucht haben, darunter zu unserer Freude auch die holländische JONATHAN mit Caroline und Mark. Der Anker fällt und hält. Wir sind in Sicherheit. Und fühlen uns großartig.
»Port Lockroy«: Die ehrwürdige Britische Forschungsstation.

In den darauffolgenden Tagen genießen wir mit den Freunden die vergleichsweise nervenschonende Sicherheit, die die gegen alle Windrichtungen geschützte, fast kreisrunde und von hohen Gipfeln eingerahmte Bucht von »Port Lockroy« bietet. Die Briten wussten schon was sie taten, als sie hier nach dem zweiten Weltkrieg ihr Hauptquartier aufschlugen. Heute ist die alte Station ein Museum, das während der Saison von tausenden von Kreuzfahrern bepilgert wird. Neben den vielen Eselspinguinen gibt es sehenswerte Exponate zu sehen, wissenschaftliche Ausrüstung, Skier, Schlitten und Dinge des täglichen Lebens. Im gut sortierten Souvenirshop führen sie einfach alles, vom »Port Lockroy« T-Shirt über Postkarten und Briefmarken (es gibt hier sogar einen offiziellen Briefkasten), bis zu den Pinguintassen und natürlich Shakleton‘s Lieblingswhisky. Die Flasche für 70,- $ US würde den Wert unseres Schiffes bestimmt erhöhen, sofern sie denn an Bord in ihrer Vitrine verbliebe.
Im Museum von »Port Lockroy«: Elizabeth Taylor bewacht eine Koje.

»Port Lockroy«: BOUNCE bringt uns zurück an Bord (Ein Film von B+M).
Hier in »Port Lockroy« verlässt uns völlig unerwartet die HAIYOU, mit der wir in den letzen Wochen durch dick und dünn gegangen sind. Ein Schlaganfall in der Familie. Chris, Lynn und Javier laufen sofort aus, hinein in einen eisigen Nordost, nonstop zurück nach Puerto Williams. Unser Neid hält sich in Grenzen, trotz des offenbar brauchbaren Wetterfensters. Aber auch für uns neigt sich die Saison dem Ende zu. Noch diese Woche planen wir, die 50 Seemeilen durch den »Neumeyer Kanal« nach »Melchior Island« in Angriff zu nehmen. Dort wollen wir auf guten Wind warten, der uns eine sichere Heimreise über die gefürchtete »Drake Passage« verspricht. Wenn alles gut geht, erfahrt Ihr darüber mehr, in einem frischen Newsletter.
Unsere Route durch den »Le Maire Kanal« nach »Cholet Island« und weiter nach
»Port Lockroy«.

Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch Britta und Michael / SY VERA / Port Lockroy / Antarctica / POS 64.49,6S - 063.29,3W